Oktober 2015: Stolperstein-Stadtführung für die Stolperstein-Initiative aus Rosenheim

Am 15. September 2015 erhielt der Vorstand des Vereins folgende email von Dr. Thomas Nowotny aus Rosenheim:
„… Die „Initiative Erinnerungskultur – Stolpersteine für Rosenheim“, deren Sprecher ich bin, versucht in Rosenheim Stolpersteine durchzusetzen. Dazu gab es im Sommer ein Hearing im Stadtrat (ähnlich wie damals in München, aber kleiner, in Rosenheim bisher ohne Stadtratsbeschluss; dieser soll im Herbst erfolgen). Um interessierte Stadträte und sonstige Menschen mit dem Thema vertraut zu machen und sie zu motivieren, würden wir gerne nach Landshut fahren, Stolpersteine anschauen und uns berichten lassen, wie der Prozess bis hin zu ihrer Verlegung in Landshut verlaufen ist. Es wäre schön, dies relativ zeitnah an einem Samstag zu planen.“

Am 31. 10. 2015 traf sich der 2. Vorsitzende des Vereins, Franz Gervasoni, mit ca. 8 Leuten aus Rosenheim – ein paar Stadträte und einige Mitglieder des Stolperstein-Initiativkreises aus Rosenheim – und erläuterte bei den einzelnen Stolpersteinen den historischen Hintergrund und die jeweiligen biografischen Zusammenhänge.
Bei einem gemeinsamen Essen wurden dann die Schwierigkeiten diskutiert, die wohl in vielen mittelgroßen Städten dazu führen, die „braune“ Vergangenheit am besten wegzuschie-ben und ruhen zu lassen, um die weiße Weste der jeweiligen Stadt nicht zu beschmutzen. Die Diskussionen in Landshut sind ja hinlänglich bekannt. Für uns war es nun sehr spannend mit den Fakten aus Rosenheim konfrontiert zu werden. Am 19.06. 2015 gab es eine Einladung an alle Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Interesse an einer aktiven und personalisierten Erinnerungskultur für die Rosenheimer NS-Opfer. Diese „Initiative Erinnerungskultur – Stolpersteine für Rosenheim“ setzt sich für ein öffentlich sichtbares, würdiges Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewalt in Rosenheim und Umgebung ein, gemeinsam mit deren Angehörigen und Opfergruppen. Wir sind ein partei- und konfessionsübergreifender Zusammenschluss; die Mitarbeit steht allen offen.

Im weiteren Text wird dann speziell auf die Situation vor Ort eingegangen. Auch in Stadt und Landkreis Rosenheim sind viele Menschen den Naziverbrechen zum Opfer gefallen. Über 70 Jahre nach Kriegsende sucht man im Stadtbild vergebens nach sichtbaren Zeichen der Erinnerung. Immerhin gibt es in der Stadtparrkirche St. Nikolaus ein Fenster und eine kleine Gedenktafel für Elisabeth Block, ein jüdisches Mädchen aus Niedernburg bei Prutting, das 1942 mit ihrer Familie deportiert und ermordet wurde. Ihre Tagebücher wurden gerettet und in den 1990er Jahren veröffentlicht; die Originale wurden 2012 von Angehörigen dem Stadtarchiv übergeben. Auch diese Verwandten möchten ein öffentliches Gedenken in Rosenheim, und sie sind nicht die einzigen. Stolpersteine sind ein Gedenken von unten, aber sie erniedrigen niemand. Wer die Texte auf ihnen lesen will, muss den Kopf senken und verneigt sich damit auch symbolisch vor den Opfern. Einige Angehörige wie Charlotte Knobloch, Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München, finden es „unerträglich, dass auf den Namen der Opfer herumgetrampelt werden kann“. Eine Einzelmeinung. Die meisten Überlebenden und Vertreter von Opfergruppen sehen es anders, die Enkelgeneration erst recht: „Ich für meinen Teil denke, dass das Schlimmste, was meinen Großeltern passieren konnte, vor Jahrzehnten geschehen ist. Lasst ihre Stolpersteine ignoriert, beschmutzt oder entwendet werden, solange nur ab und zu ein Vorübergehender bei ihnen stehenbleibt und anfängt nachzudenken.“ (Jackie Kahn)

Grundlegende Ideen werden auch mitformuliert: „Wir wollen, dass der erste Stolperstein in Rosenheim für Elisabetth (Lisi) Block verlegt wird, an die in der Stadtpfarrkirche St. Nikolaus ein schönes Fenster und eine kleine Gedenktafel erinnert. Doch ein Zeichen des Gedenkens gehört auch vor die Schule, von der Lisi 1938 als Jüdin verwiesen wurde. Der Name dieser Schule soll künftig „Städtische Mädchen-Realschule Elisabeth Block“ sein.“ Aber auch der Rosenheimer Stadtrat blieb hartnäckig in seiner Entscheidung und orientierte sich am Münchener Vorbild“, d.h. es werden in Rosenheim keine Stolpersteine auf öffentlichem Grund verlegt. Daraufhin haben sich die Initiatoren mit dem Landkreis Rosenheim, der der Idee der Stolpersteine offen gegenübersteht, zusammengetan und versuchen nun durch die Verlegung von Stolpersteinen im Landkreis die Stadt Rosenheim mit Stolpersteinen gewissermaßen „einzukreisen“. So geschehen in Stephanskirchen und Niedernburg am 16. Juli 2018. Im Februar 2022 hat der Rosenheimer Stadtrat erneut „diese Objekte“ zum Gedenken an die NS-Opfer abgelehnt. Die Räte folgten ihrer alten Argumentationslinie, und sie beziehen sich dabei vor allem auf Charlotte Knobloch, die auch die Diskussion in der Landeshauptstadt München geprägt hat. Gunter Demnig wehrt sich vor allem gegen die Aussagen der Rosenheimer CSU, hinter den Stolpersteinen stehe womöglich „ein ausgeprägtes gewinnwirtschaftlich orientiertes kommerzielles Interesse des Künstlers“. Er arbeite für eine gemeinnützige Stiftung und erhalte wie alle anderen dort Beschäftigten ein durchschnittliches Gehalt, betont Demnig. Die Entscheidung des Stadtrats, Stolpersteine auf öffentlichem Grund nicht zuzulassen, bedauert er. Aus seiner Sicht wäre es möglich gewesen, die Art des Gedenkens den Angehörigen und Nachfahren der Opfer zu überlassen. Der Rosenheimer Stadtrat will allerdings jetzt ernst machen mit einem öffentlichen und namentlichen Gedenken an die NS-Opfer. Die Stadt hat nun zu einer eigenen Form des Gedenkens gefunden, den sie den „Rosenheimer Weg“ nennt: Anstelle von Stolpersteinen im Boden sollen große, mit den jeweiligen Namen versehene Möbiusschleifen aus Messing und Blattgold etwa in Bäumen oder Hausfassaden an die Ermordeten der NS-Zeit erinnern. Eine Möbiusschleife ist eine Art einmal in sich verdrehtes Band, das somit kein Innen und Außen kennt. Als Symbole sind Möbiusschleifen weithin beliebt, zuletzt etwa für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020. Der Entwurf für die Rosenheimer Schleifen stammt von der Münchener Künstlerin Christiane Huber, die sich in ihren Werken viel mit zeitgeschichtlichen Themen erfasst. (siehe SZ, 25.09. 2022)

Persönliche Ergänzungen: Tom Nowotny ist ein sehr engagierter Mitbürger, der nicht nur die Stolperstein-Initiative in Rosenheim ins Leben gerufen hat, sondern der auch in München das Projekt mitträgt und die dortige Initiative unter Terry Swartzberg tatkräftig unterstützt. Hintergrund für das Engagement in München ist für Tom Nowotny die Tatsache, dass er dort für Opfer aus seiner Familie Stolpersteine verlegen lassen möchte, was aber aus den bereits zitierten Gründen nicht möglich ist. Aus diesem Grund hat er sich auch einer Gruppe von Angehörigen von Nazi-Opfern angeschlossen, die am 25. November 2015 die Stadt München vor dem Verwaltungsgericht verklagt hat. Das Gericht sah allerdings kein Recht auf Stolpersteine und hat dem entsprechend die Klage abgewiesen. Es liege im Ermessen der Stadt, welche Form des Gedenkens sie zulässt – und welche nicht. Tom schreibt über seinen familiären Hintergrund:
„MeineMutter und ihre Schwester stammten aus einer Münchner jüdischen Familie, die schon früh mit Antisemitismus konfrontiert wurde: 1929 musste mein Großvater deshalb seine Getreide- und Futtermittelhandlung aufgeben; die Familie ging zunächst nach Berlin und dann nach Westfalen. 1934 emigrierten sie nach Paris. Meine Mutter und meine Tante überlebten die Nazizeit in Dänemark und Großbritannien, meine Großmutter in Frankreich und der Schweiz. Nach der Emigration unserer Familie 1934 nach Paris ist es für meinen Großvater Berthold Walter – wie für viele deutsche Flüchlinge – unmöglich, dort wirtschaftlich Fuß zu fassen. … Man stelle sich den Zustand von Menschen vor, die nach den schweren Qualen und Sorgen der letzten Monate und Jahre in der Heimat das sichere Ufer erreicht hatten, sich aufatmend zwei Zimmer, ein Zimmer, eine Kammer suchten und nach wenigen Wochen erfuhren: Das Dableiben ist zwar auf ein Jahr gesichert, aber arbeiten dürft ihr nicht. Daher ist es wohl besser, ihr zieht gleich weiter, denn bei uns könnt ihr mit solchem Anspruch nicht bleiben.
So entschließt sich Berthold im März 1935, allein nach Deutschland zurückzukehen. In Hamburg, dem „Tor zur Welt“, hofft er zumindest seinen Unterhalt zu verdienen. … In zahlreichen Briefen schildert Berthold seiner Frau, was er in Hamburg erleben muss. Sie fasst diese in ihrem Antrag auf Wiedergutmachung so zusammen:
„Man verweigert dem äußerlich sehr jüdisch aussehenden Mann die Handelserlaubnis und die Vermittlung einer angemessenen Arbeit, so dass er versuchte, als Hausierer zu überleben. Mehr als einmal wurde er von Nazis mit Schlägen bedroht, einmal wurde ein großer Hund auf ihn gehetzt, der ihm die Hose zerriss, ein anderes Mal wurde er die Treppe hinuntergeworfen. Diese entwürdigende Behandlung brach seine Widerstandskraft.“
Am 7. August 1935 nimmt sich Berthold Walter das Leben, indem er vom 7. Stock des Finanzgebäudes am Gänsemarkt in die Tiefe springt. Er stirbt mit 58 Jahren.“

siehe dazu Weissberg Nea, Müller-Hohagen Jürgen, Hrsg., Beidseits von Auschwitz. Identitäten in Deutschland nach 1945, Lichtig-Verlag Berlin, 2015, S. 210 – 224

Des öfteren habe ich Tom auf Demos gesehen, die er entweder selbst organisiert hat oder auf denen er als vehemter Redner gegen die Abschiebung der Flüchtlinge nach Afghanistan aufgetreten ist. Dabei hat er kein Blatt vor den Mund genommen und ist sowohl mit der Regierung in Berlin als auch im Besonderen mit der Bayerische Staatsregierung hart ins Gericht gegangen. So hat er über change.org eine Petition gestartet, die er immer noch updated, mit dem Ziel, die gesetzeswidrigen Abschiebungen der Flüchtlinge zu stoppen. Fast 100.000 Menschen haben diese Petition unterschrieben und als Tom diese Unterschriften an die damalige Kanzlerin Angela Merkel weitergeben wollte, wurde das kaum registriert. Er lässt sich aber nicht unterkriegen und kämpft weiter: für die Flüchtlinge und die Stolpersteine. Er handelt nach der Maxime unseres Grundgesetzes und der Charta der Vereinten Nationen, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, und die Menschenrechte universale Gültigkeit haben.