Unter Federführung des Hans-Carossa-Gymnasiums und in Zusammenarbeit mit „Runder Tisch gegen Rechts Landshut“ und mit dem Stolpersteineverein und dem Kinoptikum konnten wir einen wirklich einmaligen und außergewöhnlichen Zeitzeugen nach Landshut einladen. Angeregt durch den dokumentarischen Film über das dramatische Leben von Argyris Sfountouris – „Ein Lied für Argyris“ – versuchte Franz Gervasoni, die Adresse des Protagonisten in Erfahrung zu bringen. Dies gelang schließlich über den Regisseur des Films Stefan Haupt. Nach einer langen Vorlaufzeit wurden letztendlich die beiden Tage im Juni für den Besuch in Landshut vereinbart. Herr Sfountouris, der ein halbes Jahr in Zürich lebt und im Sommer in seine griechische Heimat zurückkehrt, reiste mit dem Zug aus der Schweiz an.
Sowohl Schulklassen als auch die Öffentlichkeit der Stadt konnten sich den Film entweder in Sonderveranstaltungen des Kinoptikums anschauen oder sich dann nach einer Abendveranstaltung mit Herrn Sfountouris über die Ereignisse von damals austauschen. Und in diesen Gesprächen merkte man sehr deutlich, dass Argyris Sfountouris auch nach viele Jahrzehnten und mehr als 25 Jahren Kämpfen für Frieden und Gerechtigkeit immer noch emotional sehr aufgewühlt war über die unbeschreiblich grausamen Geschehnisse vom 10. Juni 1944 in Distomo.
Argyris Sfountouris ist ein moderner, aufgeschlossener und sensibler Mensch mit klarem Blick und hellem, weitsichtigen Verstand. In seinen Gesprächen mit den Schüler*innen wird er nachdenklich und zeigt sich emotional sehr bewegt, als er z.B. über seine Tätigkeiten in Somalia spricht und erzählt, dass in wirtschaftlich schwierigen Situationen Eltern die Entscheidung treffen müssen, angesichts von zu geringen Nahrungsmitteln, nur dem Kind mit den besten Überlebenschancen zu essen zu geben.
Argyris Sfountouris war noch nicht vier Jahre alt, als deutsche Besatzungssoldaten am 10. Juni 1944 seine Eltern und 216 anderer Dorfbewohner jeden Alters und Geschlechts grauenhaft hinmetzelten. Dies war eine der sog. Sühnemaßnahmen der deutschen Soldateska. Bei diesen Maßnahmen wurden hunderte griechischer Dörfer zerstört und etwa 30.000 Menschen allein bei diesen Aktionen ermordet, darunter Säuglinge, Kinder, Frauen und Greise, meist als „Sühnemaßnahmen“ für Partisanenangriffe. Der vollständigen Vernichtung fielen etwa 60 Dörfer zum Opfer. Stellvertretend seien die Orte Distomo, Kommeno, Kalavrita und Lyngiades genannt.
In Kommeno finden jedes Jahr neben einer Gedenkfeier auch diverse Kulturveranstaltungen statt, an denen schon seit vielen Jahren auch der deutsche Jazzmusiker Günter Baby Sommer (drums, percussion, director) teilnimmt. Im Jahr 2012 wurde von ihm im Zusammenspiel mit den griechischen Künstlern Savina Yannatou, Floros Floridis, Evgenios Voulgaris und Spilios Kastanis das Album „Songs for Kommeno“ herausgegeben. Dieses Album ist den Bewohnerinnen und Bewohnern von Kommeno gewidmet – im Gedenken an die Opfer. Der Bürgermeister von Kommeno Christos Kosmas versucht einen neuen Weg des Gedenkens zu beschreiten, den er in seinem Brief an die Musiker folgendermaßen zusammenfasst:
„Unsere Bemühungen, mit unseren Kulturveranstaltungen einen neuen Weg zu gehen,setzten in dem Moment ein, als wir erkannten, dass das grauenhafte Ereignis, das entsetzliche Kriegsverbrechen, das die Geschichte unseres Dorfes grundlegend geprägt hat, ernsthaft Gefahr lief, in leeren Gedenkfeiern zu erstarren. Als uns klar wurde, dass Lorbeer- und Blumenkränze zur Bewältigung dieses Ereignisses, das man zu verschweigen und aus den Geschichtsbüchern zu streichen bemüht war, nichts beitragen. In dem Moment, als wir feststellten, dass das an der Zivilbevölkerung begangene Blutbad fast wie ein „normales“ Ereignis in den Wirren des Krieges behandelt wurde, da beendeten wir unsere heuchlerische Anteilnahme am Leid jener Kommener, die das Massaker vom 16. August 1943 überlebt hatten.“
Lyngiades liegt nördlich von Joannina und zu den Verbrechen der deutschen Nazis dort wurde ebenfalls ein Dokumentarfilm veröffentlicht: „Der Balkon – Wehrmachtsverbrechen in Griechenland“. Dieses Massaker wurde am 03. 10. 1943 begangen. Viele dieser Dörfer haben sich mittlerweile zum Bund der „Märtyrerdörfer“ zusammengeschlossen. Dabei geht es natürlich um das gemeinsame Erinnern an die Verbrechen und nicht zuletzt ebenso darum die schon lange geforderten Entschädigungszahlungen durch Deutschland auf den Weg zu bringen.
Dieser Punkt führt wieder zu Argyris Sfountouris zurück, der schon seit langem mit Unterstützung deutscher Anwälte versucht, diese berechtigten Entschädigungsforderungen vor europäischen Gerichten einzuklagen. Bisher leider ziemlich erfolglos. Er kämpft für eine wahrheitsgetreue Geschichtsschreibung und die Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen in Griechenland. Und er wartet bisher vergeblich auf eine wenigstens symbolische Wiedergutmachung durch die Bundesregierung.
Argyris Sfountouris sagt dazu: „Die Trauer um Deutschland hat sich schon früh bei mir eingestellt, vor allem aber mit der abweisenden Haltung der deutschen Bundesbehörden aus Anlass der Friedenstagung von Delphi im Jahre 1994. Sie wollten die zur Versöhnung ausgestreckte Hand von uns Angehörigen der Opfer nicht ergreifen, in panischer Angst, dies könne ökonomische Konsequenzen nach sich ziehen. Nach dem Versuch der totalen Vernichtung jeder Gewissensregung der Herzen wäre ein reuevolles Deutschland ein wahrhaft ‚anderes Deutschland‘ gewesen.“ Herr Sfountouris ist enttäuscht von der relativ unversöhnlichen Haltung zwischen dem „neuen“ Deutschland und Griechenland. Auch in der gegenwärtigen Krise spielten sich die europäischen Großmächte nach wie vor auf, als befänden wir uns noch im Zeitalter des Kolonialismus, indem sie die Länder auch so behandeln. Das bedeutet, dass man die angebotene Hilfe immer noch als Bevormundung empfindet, weil sich dadurch die Strukturen nicht ändern lassen. Argyris Sfountouris gesteht allerdings auch ein, dass die Hauptschuldigen, die Regierenden in Griechenland, über Jahrzehnte schwerwiegende Fehler begangen haben. Sie hätten vieles korrigieren können, waren aber zu sehr gefangen von ihren eigenen Interessen, waren korrumpiert. Sie sprachen nicht die Sprache des griechischen Volkes.
Übrigens bekam die Forderung nach den Entschädigungszahlungen zu Beginn der griechischen Wirtschaftskrise in den 2010er Jahren eine erweiterte politisch-strategische Dimension, als Alexis Tsipras, der damalige Regierungschef, diese Zahlungen in Milliardenhöhe für die Abwendung des drohenden Rauswurfs Griechenlands aus der EU verwendet wissen wollte. Taktisch ein eher misslungener und unkluger Schachzug. Bei den Ermittlungen des Ausmaßes der deutschen Reparationsschuld lassen sich im Wesentlichen drei quantifizierbare Schadensgruppen unterscheiden: zum ersten materielle Schäden durch Raub- und Beuteaktionen, finanzielle Ausbeutung und Zerstörungsmaßnahmen ohne Bezug zu den Kriegshandlungen; zum zweiten exzessive Gewaltakte gegen die Zivilbevölkerung; zum dritten Vorenthaltung von Lohnkosten durch Zwangsarbeit.
Für die erste Gruppe gab es statt der errechneten 7,2 Mrd. US-Dollar lediglich 25 Millionen US-Dollar. Für materielle Schäden wurden 8,8 Mrd. US-Dollar und für die Folgen exzessiver Gewalttaten weitere 4 Mrd.US-Dollar angesetzt. Die dritte Gruppe sollte lediglich 41 Millionen US-Dollar erhalten.
Ein interfraktioneller Athener Parlamentsausschuss zur Einforderung der deutschen Kriegsschulden bezifferte den Endbetrag auf 269,5 Mrd. Euro. Für die Bundesregierung standen in keinerlei Hinsicht irgendwelche Zahlungen zur Debatte. Von deutscher Seite wurde diese „Entschädigungsvermeidung“ immer damit begründet, dass noch kein Friedensvertrag nach dem Zweiten Weltkrieg bestünde. Mit strategischen Optionen und Taktiken des deutschen Vorgehens, die in der Ausklammerung der Reparationsfrage aus dem De Facto- Friedensvertrag von 1990 („Zwei plus Vier-Vertrag“) kulminierten, konnten bis dato entsprechende Reparationszahlungen an Griechenland abgewiegelt werden.
Andererseits sind für die Täter hohe Summen an Entschädigungen und Versorgungsleistungen aufgebracht worden. Dies war insofern kein Wunder, da diese Ämter sich fest in Alt-Nazihand befanden. Zudem wurden Entschädigungszahlungen an die Veteranen der Wehrmacht und der Waffen-SS sowie an die NS-Funktionsträger, die durch die Entnazifizierung um ihre Beamtenkarriere gebracht wurden, soweit diese nicht, wie beispielsweise im Auswärtigen Amt, fast vollständig weiterbeschäftigt wurden, geleistet.
Die meisten der Täter überlebten, und was im Besonderen die Verbrecher in Griechenland anbetrifft wurden die allerwenigsten vor ein Militärgericht gestellt und somit wurden nur sehr wenige von ihnen zur Verantwortung gezogen, obwohl sie Kriegsverbrecher der übelsten Sorte waren. Diese Täter konnten in der Bundesrepublik ein unbehelligtes Leben führen, kaum einer wurde zur Rechenschaft gezogen. Eine wirkliche Würdigung der Opfer und eine Wiedergutmachung, die diese Bezeichnung nur annähernd verdient, hat es nicht gegeben. Grundlage dafür war, dass die griechischen Opfer der Kriegsverbrechen von der bundesdeutschen Justiz und Politik kurzerhand zu normalen, unvermeidbaren Kriegstoten infolge legitimer Kriegshandlungen deklariert wurden – ein Begründungsmuster, das die weiße Weste der Deutschen Wehrmacht retten sollte und ihr nachträglich einen Persilschein ausstellte für Kriegsverbrechen in Griechenland und anderswo, wie auch für ihre Beteiligungan der Shoah.
Literaturhinweise zu dieser besonderen Thematik:
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Patric Seibel: „Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals. Das SS-Massakervon Distomo und der Kampf eines Überlebenden um Gerechtigkeit., Westend VerlagFrankfurt/Main, 2016
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Argyris Sfountouris, Trauer um Deutschland. Reden und Aufsätze einesÜberlebenden, herausgegeben von Gerhard Oberlin, Verlag Königshausen &Neumann,
Würzburg 2015 -
Kaiti Manolopoulou, Juni ohne Ernte (Distomo 1944), Verlag derGriechenlandzeitung,
Athen 2016 -
Argyris Sfountouris, Schweigen ist meine Muttersprache. Griechenland – seineDichter, seine Zeitgeschichte, herausgegeben von Gerhard Oberlin, VerlagKönigshausen & Neumann, Würzburg 2017
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Mark Mazower, Griechenland unter Hitler. Das Leben während der deutschen Besatzung 1941 – 1944, Fischer Verlag Frankfurt/Main, 2016
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Hermann Frank Meyer, Blutiges Edelweiß. Die 1. Gebirgsdivision im ZweitenWeltkrieg, Ch. Links Verlag Berlin, 2010
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Katina Tenda Latifis, Die Frau mit den sieben Leben, Edition Kentavros Hamburg,2019
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Karl Heinz Roth & Hartmut Rübner, Reparationsschuld. Hypotheken der deut-schenBesatzungsherrschaft in Griechenland und Europa, Metropol Verlag Berlin, 2017
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Christoph U. Schminck-Gustavus, Kephalloniá 1943 – 2003. Auf den Spuren einesKriegsverbrechens, Donat Verlag Bremen, 2004
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Christoph U. Schminck-Gustavus, Der blaue Mantel. Von Dachau nach Sibirien –Zeugnisse griechischer KZ-Häftlinge 1943 – 1993. Nachforschungen über den KP-Führer Nikos Sachariádis und seine angebliche Kooperation mit den Nazis, Donat Verlag Bremen, 2008
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Christoph U. Schminck-Gustavus, Feuerrauch. Die Vernichtung des Dorfes Lyngiádesam 03. Oktober 1943, Dietz Verlag Bonn, 2013